Am achten Baselbieter Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsforum (BAWF) vom 18. Oktober 2023 diskutierten Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung der Region die brennendsten Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt. Dazu stellten Experten der KOF und vom Seco die neusten Ergebnisse und Trends vor. Fazit: Die Schweiz ist eine reiche, aber alternde Volkswirtschaft. Das «Wohlstandsland» – und dazu gehört auch die Region Basel – ist wirtschaftlich noch sehr gut aufgestellt, muss sich aber für die Zukunft vorsehen und rüsten. Infolge der demographischen Entwicklung, verbunden mit der rückläufigen Pro-Kopf-Arbeitszeit, verschärft sich der Arbeitskräftemangel über alle Branchen und Bereiche hinweg. Hier sind die Unternehmen zusammen mit dem Kanton gefordert, Anreize und kreative Lösungen zu schaffen, betonte auch Regierungsrat Thomi Jourdan. «Lasst uns arbeiten», lautete das Motto. Das von der Standortförderung Baselland veranstaltete BAWF 23 füllte mit rund 200 Teilnehmenden den Eventhub von uptownBasel – selbst ein zukunftsweisender Arbeitsstandort.
Davon waren die meisten Teilnehmenden überrascht: Bisher wurde hauptsächlich vom Fachkräftemangel geredet. Doch es zeichnet sich – vom Gast- über das Baugewerbe bis hin zu den MINT-Berufen – in der gesamten Schweizer Wirtschaft ein wachsender Bedarf an Arbeitskräften ab. Eines von drei Industrie-Unternehmen beklagt heute einen Mangel an (qualifiziertem) Personal.
Zahl der Erwerbsfähigen schrumpft
Der steigenden Nachfrage steht je länger je mehr ein sinkendes Angebot gegenüber: So würde die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 2022 und 2042 landesweit um 13 Prozent schrumpfen. Dies entspreche einem durchschnittlichen Rückgang von 0.7% pro Jahr, schilderte Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm, Direktor KOF, anhand eines statistischen Szenarios die Situation in 20 Jahren.
Mehr neue Stellen als nachrückende Erwerbstätige
Diese Entwicklung bahnte sich bereits in den letzten zehn Jahren an. In dieser Zeit wurden gemäss Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit beim Seco, über 655'000 vor allem im Gesundheits- und Sozialwesen dringend benötigte neue Stellen geschaffenen. Währenddessen ist die Zahl der Erwerbsfähigen lediglich auf über 302’000, die der Erwerbstätigen auf gegen 586’000 gestiegen. Dies seien klare Indizien dafür, dass der hiesige Arbeitsmarkt durch die fortschreitende Alterung der Bevölkerung über seinem demographischen Potenzial wächst. Zudem habe die Schweiz mit einem Anstieg der Erwerbsbeteiligung von 83 auf knapp 85 Prozent gegenüber einem Zuwachs von 80.6 auf 81.6% in Europa (auch hinsichtlich Vollbeschäftigung) ihren Spielraum mehr ausgeschöpft.
Arbeitszeit sinkt jährlich um 0.7 Prozent
Verschärfend dazu komme, dass die mittlere Arbeitszeit pro Beschäftigten (bei noch wachsendem Arbeitsvolumen) zwischen 2002 und 2022 jährlich um 0.7 Prozent abgenommen hat. Auch stagniert die pro-Kopf-Entwicklung des Sportevent-bereinigten Bruttoinlandprodukts (BIP) nach einer kleinen Boom-Phase während Corona und verharrt auch künftig um den Nullpunkt.
«Ohne Gegenmassnahmen kostet die sinkende Produktivität sowie die demographische Entwicklung die Schweiz Wachstum und Wohlstand», erfuhr das Publikum am Anlass. Dabei spielt auch die Migration eine wichtige Rolle. Tatsache ist, dass der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer am Zuwachs der Erwerbstätigen in den letzten zehn Jahren bei rund 70 Prozent lag. So wandern jährlich durchschnittlich 43000 vor allem jüngere und damit erwerbsfähige Personen aus dem EU-/EFTA-Raum in die Schweiz ein.
Weiter so viele Arbeitskräfte aus dem Ausland rekrutieren?
Die Schweiz als «Wohlstandsland» habe die Chance, im Ausland (weiterhin) aus einem Pool von über 250 Millionen Erwerbstätigen rekrutieren zu können, müsse dafür aber als Standort «attraktiv bleiben», betonte Boris Zürcher. Weiter sieht er die «Digitalisierung als Hoffnungsträger für Produktivitätsfortschritte» und bezeichnete den Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel als «Innovationspeitsche».
Kreative Ansätze sind in der Tat gesucht. Moderiert von Flurina Landis, Interface Politikstudien Forschung Beratung AG (Bannerfoto rechts), diskutierten die Podiumsteilnehmer die nötigen Rahmenbedingungen durch den Staat, etwa in der Bildungs- und Sozialpolitik, sowie Massnahmen durch die Wirtschaft, um den hiesigen Arbeitsmarkt fit für die Zukunft zu halten.
Arbeitsmarkt soll liberal sein/bleiben
Isabelle Wyss, Leiterin KIGA Baselland, schilderte die Situation im Kanton. Mit 1.8 Prozent liegt hier die Arbeitslosenquote so tief wie lange nicht mehr (0,2% unter demjenigen der Gesamtschweiz) und ist das Beschäftigungswachstum 2022 und 2023 entsprechend angestiegen, wobei die Grenzgänger einen wesentlichen Teil ausmachen. Sie betonte, «dass ein liberaler (nicht noch mehr regulierter) Arbeitsmarkt wichtig ist, damit die Firmen auch das Nötige beisteuern können.» Oft komme bei den Arbeitsgebern jedoch noch das Entwicklungsmoment im Personalwesen zu kurz. Vom Kanton wünscht sie sich eine aktive Bildungspolitik.
Arbeitgeberverband unterstützt Firmen bei Standortbestimmung
Laut Saskia Schenker, Direktorin des Arbeitgeberverbands Region Basel, sind die Firmen hier zum Thema aufgerüttelt und würden sich verstärkt mit dem Arbeitskräfte-Mangel (auch innerhalb ihrer Geschäftsstrategie) auseinandersetzen: «Wir sensibilisieren die Arbeitgeber weiter und unterstützen sie mit unserem Angebot zur 'Standortbestimmung Arbeitskräfte-Demografie' dabei, diese Herausforderung anzupacken». Über alle Stufen hinweg seien die Löhne bereits angepasst worden und die Möglichkeiten ausgereizt. Der Wettbewerb unter den Arbeitgebern sei hoch, und neben dem Salär würden auch andere Faktoren zählen. Da die Arbeits- und Lebenssituation der Arbeitnehmenden heute anders aussieht, sollten die Unternehmen flexibler werden können, forderte sie.
Marktkonforme Entlöhnung und flexible Anstellungsbedingungen
Die Ronda AG mit Sitz in Lausen wird als Uhrenwerk-Herstellerin mit dem Arbeitskräftemangel vor allem in den MINT-Berufen konfrontiert. Im Tessin sei es einfacher, Fachkräfte zu finden als in anderen Regionen der Schweiz, erklärte Maria-Grazia Urgese, Leiterin Human Resources (Foto unten rechts). Mit einer marktkonformen Entlöhnung und flexiblen Gestaltung der Anstellungsbedingungen, gelte es, weiterhin als attraktive Arbeitgeberin wahrgenommen zu werden. Unter anderem nannte sie die «Erhöhung des KITA-Angebots, damit Eltern entspannter sein können».
Attraktive(re) Perspektiven für Junge und Familien
Lucien Robischon, Bereichsleiter bei Unia Region Aargau-Nordwestschweiz, sorgt sich vor allem um die Zukunft der weniger gut qualifizierten Arbeitskräfte, die enorm unter den explodierenden Kosten zu leiden haben: «Hier stehen die Arbeitgebenden in der Verantwortung. Wir stellen in den Lohnverhandlungen Bereitschaft fest, den Teuerungsausgleich zu bezahlen.» Auch gelte es, für junge Arbeitnehmende und (ihre) Familien verbesserte Rahmenbedingungen und Perspektiven zu schaffen, «etwa mit einem fortschrittlichen Mindestlohn oder mit dem Angebot von Kinderbetreuungsplätzen.» Doch die Forderungen der GenerationX nach einer ausgewogen(er)en Work-Life-Balance sei nicht in allen Branchen gleichermassen umsetzbar, räumte er ein.
Grenzgängern (mehr) Homeoffice-Optionen bieten
Gemäss Elisabeth Catharina Vock, Leiterin Human Resources bei Syngenta (Foto links), sollten gerade auch Arbeitskräfte aus dem Ausland, im Speziellen die Grenzgängerinnen und Grenzgänger, eine Homeoffice-Option haben. «Die Mitarbeitenden wertschätzen nach Corona wieder vermehrt die Nähe zur Familie und verzichten notfalls auf den besser bezahlten Job in der Schweiz», mahnte sie. Die verstärkte Einbindung der 30-40-jährigen Arbeitnehmenden sei generell sehr wichtig, damit diese mit ihren Kindern hierbleiben. Weiter nannte sie die vermehrte Integration der älteren Arbeitnehmenden im Rahmen von 50+-Projekten. Und schliesslich müsse Teilzeitarbeit auch im Bereich der Karriere-Förderung liegen, kombiniert mit einer gewissen Flexibilität bei den Anstellungsbedingungen.
Arbeitskräfte-Potenzial besser nutzen und Digitalisierung fördern
«Es braucht das gemeinsame Engagement von Wirtschaft und Politik, damit wir das in der Schweiz ungenutzte Arbeitskräfte-Potential in den Arbeitsmarkt bringen, es braucht neue Arbeitszeitmodelle und die Bereitschaft, auch nicht typische oder lineare Lebensläufe für eine Stellenbesetzung in Betracht zu ziehen, es braucht generelle und familienunterstützende Anreizstrukturen, die den Entscheid für höherprozentige Arbeitspensen begünstigen, und es braucht den Mut, die Risiko- und Investitionsbereitschaft für eine digitale Transformation», appellierte Thomi Jourdan an die teilnehmenden Unternehmen. Der Vorsteher der Volkswirtschafts- und Gesundheitsdirektion Baselland kann sich gezielte Investitionen ins Bildungswesen gut vorstellen: «Wir müssen bei der Ausbildung eine Durchlässigkeit sicherstellen und beispielsweise die KV-Lehre mit Digitalisierungs-Themen anreichern.»
Handelskammer fördert ICT-Nachwuchskräfte
Martin Dätwyler, Direktor der Handelskammer beider Basel, riet, «die Standort-Attraktivität durch Weiterentwicklung des gesamten Ökosystems zu fördern und vor allem junge Nachwuchstalente rechtzeitig als Fachkräfte (her)anzuziehen». Bereits seit vielen Jahren engagiert sich die Handelskammer im MINT-Bereich mit Schwerpunkt in der Information and Communication Technology (ICT) und bietet (u.a. zusammen mit Basel Area & Business Innovation) Accelerator-Programme für ICT-Startups sowie den ICT-Campus für Jugendliche und die Plattform be-digital an.
uptownBasel als Vorzeigebeispiel
Der Anlass fand bei uptownBasel statt. Geschäftsführer Baschi Dürr zeigte auf, wie sich das Areal mit seiner Expertise und diversen Angeboten in der Quanten-Technologie und AI, mit Innovationen (bei der Energieversorgung, nachhaltiger Bauweise etc.) zusehends zum internationalen Kompetenzzentrum für Industrie 4.0. entwickelt. Es ist geplant, im Campus bis zu 100 Firmen anzusiedeln und 2500 Arbeitsplätze zu schaffen. «Hier in Arlesheim sieht man schön, wie der Arbeitsmarkt der Zukunft gestaltet werden kann, erklärte Gastgeber Thomas Kübler, Leiter der Standortförderung Baselland.
Bericht: Kathrin Cuomo-Sachsse; Fotos: Pino Covino
Machbarkeitsstudie zur Rekrutierung von Fachkräften aus dem Ausland
«Seit 2026 beschäftigt sich die Standortförderung Baselland mit fundamentalen Treibern der Arbeitsmarktentwicklung», wie Thomas Kübler am BAWF erklärte.
Um die Rahmenbedingungen für die Rekrutierung von Fachkräften aus dem Ausland (Global Employees) optimal zu gestalten, hat die Standortförderung Baselland gemeinsam mit dem Amt für Migration und Bürgerrecht Basel-Landschaft sowie mit Thusanthy Dusha SINNIAH MAGESWARAN, unterstützt von der BLKB, die Initiative «Attract and Accommodate Global Employees» in der Region Basel und eine Situationsanalyse lanciert. U.a. wurden dazu 15 Unternehmen und Institutionen, 7 Gemeinden und Städte im Kanton Basellandschaft sowie über 800 in der Region ansässige Global Employees (GEs) aus 56 Nationen, befragt.
Einige gesellschaftliche Aspekte bei der Ansiedlung besser berücksichtigen
Eine Erkenntnis ist, dass die Unternehmen grundsätzlich viele der Bedingungen schätzen, die sie derzeit hier vorfinden. Doch einige Aspekte sollten verbessert werden, um auf dem globalen Markt wettbewerbsfähig zu bleiben.
So ist eine überwiegende Mehrheit der befragten GEs zwar mit der Lebensqualität zufrieden, doch fast 70% sind nach der Niederlassung in der Region mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert.
U.a. haben die Sprachbarriere, der Aufbau eines sozialen Netzwerks und das Verständnis der gesellschaftlichen Struktur sowie des politischen Systems einen Einfluss auf den Ansiedlungsprozess.
Die meisten der befragten Gemeinden/Städte wären jedoch bereit, günstigere Bedingungen zu schaffen, welche die Ansiedlung für GEs beschleunigen würden.
«Nun geht es darum, die richtigen Umsetzungsmassnahmen anzugehen. Dafür benötigen wir die Unterstützung der betroffenen Unternehmen, der zuständigen Verwaltungsstellen und der Global Employees selbst», so Thomas Kübler.
👉Mehr Informationen im Schlussbericht zur «Machbarkeitsstudie BL-2022 / 23: Attract and Accommodate Global Employees» in der Region Basel in Deutsch: www.economy-bl.ch/fileadmin/user_upload/F_Bericht_Machbarkeitsstudie_BL_2022_23_Deutsch.pdf